Drei kleine Räume. Am Anfang stehe ich im ehemaligen Büro.

Hier stolperte der junge Mann, den sie später „King“ nennen sollten, herein, um eine Platte für seine Mutter aufzunehmen.
Hier flirtete der 22-jährige Hausgerätevertreter John R. Cash mit Sekretärin Marion Keisker, um einen Termin bei Studiobesitzer Sam Phillips zu ergattern.
Am Ende verkaufte Johnny ihr immerhin einen Fernseher.
Seine Audienz beim Chef bekam er später zum Glück auch.

Über 60 Jahre ist das her. Seitdem ich denken kann, haben mich diese Geschichten begleitet. Wieder und wieder habe ich sie gelesen, gesehen und gehört. Sie haben sich eingenistet in meiner Erinnerung, bis es sich anfühlte, als wäre ich dabei gewesen. Jetzt werde ich gleich wirklich durch die kleine Holztür in den Aufnahmeraum treten und in eines der historischen Bändchenmikrofone singen, danach im Abhörraum sitzen, gleich neben der Bandmaschine, mit der Sam Phillips sein legendäres Slapback Echo erzeugte. Ich habe meine eigenen Songs im Gepäck – und meine Zweifel.


Zwischen 1950 und 1959 produzierte Samuel Cornelius Phillips in seinem Studio auf der Union Avenue einige der einflussreichsten Musikaufnahmen des zwanzigsten Jahrhunderts. Er war ein Pionier mit stets wachen Ohren, wilden Augen und einer unbändigen Liebe für die Schönheit des Augenblicks. Als Produzent hatte er die Gabe, seine Künstler von Ängsten zu befreien und ihrer Seele den unmittelbaren Ausdruck zu ermöglichen. Außerdem war er Meister der Improvisation. Als dem Gitarristen von Ike Turners Band die Membran seines Verstärkers riss, stopfte Sam das Gehäuse kurzerhand mit alten Zeitungen und nahm so die erste verzerrte Gitarre der Musikgeschichte auf. Wenn man ehrlich ist, besaß das Stück Rocket "88" aus dem Jahr 1951 bereits alle Zutaten dessen, was man später Rock'n'Roll nennen würde. Doch erst als Elvis drei Jahre später seine Debütsingle That's All Right beim damals noch sachlich benannten „Memphis Recording Service“ aufnahm und DJ Dewey Phillips, vom lokalen Radiosender WHBQ, die Platte in Dauerschleife rotieren ließ, begann der Siegeszug der neuen Spielart. Von Howlin' Wolfs eindringlichem Blues, über den Boogie-Woogie-geschwängerten Country eines Jerry Lee Lewis, bis hin zu Presleys kulturprägenden Rockabilly-Brandsätzen, streckt sich die Bandbreite der hier aufgenommenen Musik.

Dieser magische Ort, den Sam mühsam von einer Autowerkstatt in ein Tonstudio verwandelte, ist heute tagsüber Museum und nachts hart arbeitende Aufnahmestätte. Wenn man die Antennen auf Empfang schaltet, kann man die Präsenz derer spüren, die damals in dem kleinen Gebäude alles Herzblut in ihre musikalischen Darbietungen legten – ohne die leiseste Vorahnung, dass ihre Aufnahmen Kulturgeschichte schreiben und unschätzbare Inspiration für nachfolgende Generationen von Künstlern werden sollten.

Einer davon, der noch immer damit rechnet, jeden Moment entlarvt zu werden, wenn er sich als „Musiker“ vorstellt, betritt an einem Maiabend die von Sam und Marion mühsam getäfelten Wände der Rock'n'Roll-Krippe. An dieser Stelle empfiehlt der Verfasser die Nadel auf die Seite A der vorliegenden Platte zu setzen, auf der die Session tontechnisch verewigt ist.




Memphis, 23:42 Ortszeit. 
Am Ende stehe ich in einer lauwarmen Tennesseenacht vor dem Fenster mit der ikonischen Neonleuchtschrift und fühle mich am Ziel einer langen Reise. Und zum ersten Mal selbstverständlich als Musiker. Dass ich überhaupt eine Note herausbringen konnte, habe ich Tonmann Curry Weber zu verdanken.
Zusammen mit seinem Assistenten Ples, etwas kühlem Bier und einer großen Portion warmer Südstaatenfreundlichkeit
hatte er mich durch die Session getragen. Bis zu dem Punkt, an dem alle Vorbehalte übertönt wurden von Musik und einer Stimme, die eindringlich flüstert: Mach es anders! Sei du selbst!
Das habe ich probiert – es fließen zu lassen und so zu machen, wie ich es eben mache. Nach und nach erfüllten mich Demut und Dankbarkeit für diese magische Ausdrucksform. Hier, an der Quelle meiner persönlichen Leidenschaft.
Das nehm ich mit. Und auch die beruhigende Gewissheit, dass „mein“ SUN Studio kein entrückter Schrein ist. Kein kaltes Museum, in dem Vergangenes verbleicht.
Nicht bloß ein „Ort“. Sondern eine Kraft, die sich aus dem Scheinen wahrhafter Momente speist, die sie konserviert und weitergibt.

SUN sind Sam, Marion, Johnny, Elvis, Scotty, Carl, Riley, der heulende Wolf, Jerry Lee und auch die, deren Namen heute niemand mehr kennt.
Und die Verrückten, die tagsüber seine Geschichte erzählen und sie nachts weiterschreiben, indem sie Künstler aus aller Welt willkommen heißen, ihnen zuhören und neue Momente festhalten – wie mein Freund Curry.
Und ich? Ich gehe ohne Zweifel.


Sven Caßebaum, Februar 2020


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